1. Was gilt zu Prognosen generell?

Prognosen ziehen von den gegenwärtig vorhandenen Verkehrsdaten Schlüsse auf die Zukunft. Dabei gibt es mehrere Unsicherheiten und Fehlerquellen:

➣ Die Rahmenbedingungen von 2018 oder 2023 lassen sich nicht einfach auf das Jahr 2040 übertragen. Eine Corona-Pandemie beispielsweise konnte niemand vorhersehen und doch hat sie zu einem geringeren Verkehrsaufkommen beigetragen, u. a. durch mehr Home-Office bei dafür geeigneten Arbeitsplätzen.
➣ Mehr Straßen erzeugen mehr Verkehr – das ist in vielen Studien festgestellt worden. Einfach ausgedrückt bedeutet das, dass heute prognostizierte Verkehrszahlen maßgeblich durch den Bau von Straßen beeinflusst werden. Wer höhere Verkehrszahlen für die Zukunft prognostiziert, beeinflusst die Erhöhung in starkem Maße mit (Self-fulfilling prophecy).
➣ Gesellschaftliche Entwicklungen lassen sich nicht für einen so weit entfernten Zeitraum vorhersagen. Vor 20 Jahren hat z. B. niemand die weltweite Verbreitung des Internets und der sozialen Medien vorhersehen können. 

2. Das Risiko von Verkehrsprognosen am Beispiel der Planung des Nordzubringers II

Der Filmemacher und Journalist Klaus Peter Karger zeigt am Beispiel des Verkehrsplaners Prof. Karl-Heinz Schaechterle, wie riskant Verkehrsprognosen sein können. Schaechterle war u. a. verantwortlich für den Generalverkehrsplan von 1966 für die Stadt Villingen sowie die Generalverkehrspläne von 1977 und 1980 bis 84 der gemeinsamen Stadt Villingen-Schwenningen. “Seine Verkehrsprognosen beruhten allerdings auf Annahmen, die dann nicht eingetreten sind.” Nach Kargers Ausführungen war Schaechterle ein “überzeugter Verfechter des motorisierten Individualverkehrs. Seine gutachterliche Tätigkeit zielte darauf ab, Deutschland autogerecht umzubauen.” (Zitate aus dem Gastbeitrag “Wie Karger die Prognosen bewertet”, Schwarzwälder Bote, 04.01.2024).
Im Auftrag des Regierungspräsidiums Freiburg erstellt heute die Schweizer Firma Rapp AG die Prognosen für die Verkehrsentwicklung mit und ohne den Weiterbau der B523. Auch heute werden Grundannahmen getroffen, die erst in etlichen Jahren als richtig oder falsch bewertet werden können. Eines allerdings ist Wissenschaftlern, Politikern und Bürgerinnen/ Bürgern bewusst: Die drohende Klimakatastrophe zwingt zu einem Umdenken, auch im Verkehrssektor.

Der Gastbeitrag “Wie Karger die Prognosen bewertet” vom 04.01.2024 im Schwarzwälder Bote in voller Länge:

3. Verkehrspolitische Zielwerte sind für das Klima sinnvoller als Prognosen

Änderungen von politischen Zielen und Vorhaben lassen sich nicht prognostizieren. So zeigt das „Klimaschutzszenario“ des Wirtschaftsministeriums Baden-Württemberg für das Jahr 2030 eines deutlich: „Mit dem von der Bundesregierung verabschiedeten „Bundesverkehrswegeplan 2030 werden weder die Klimaziele Baden-Württembergs noch die des Bundes erreicht werden können“ (Quelle: Ein Klimaschutzszenario für Baden-Württemberg – Verkehrsinfrastruktur 2030“, Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg) Deshalb hat die Landesregierung verkehrspolitische Zielwerte beschlossen, die bis zum Jahr 2030 fortgeschrieben werden sollen und in denen eine nachhaltige Mobilität der Kern der künftigen Verkehrspolitik sein muss. 

Einzelne verkehrspolitische Zielwerte der baden-württembergischen Landesregierung bis 2030:
➣ Senkung der CO2-Emissionen des Verkehrs um -40 % im Vergleich zu 1990
➣ Erhöhung der Personenkilometer (Pkm) im ÖPNV um 100 %, bezogen auf 2004
➣ Erhöhung des Güterverkehrsanteils von Bahn + Binnenschiff um 10 % im Vergleich zu 2010
➣ Erhöhung des Fußverkehrsanteils an Wegen als Hauptverkehrsmittel um 30 % im Vergleich zu 2008
➣ Verringerung der Zahl der Personen, die verkehrsbedingter Lärmbelastung (> 55 dB(A)) ausgesetzt sind, um 50 % im Vergleich zu 2012

Statt über Prognosen sollte man sich über die Ziele klar werden, wie die Mobilität im Jahr 2040 aussehen könnte oder sollte. Klimaschutz ernst zu nehmen, bedeutet, dass es in den nächsten 20 Jahren eine andere Verkehrspolitik braucht als in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Mehr Güter auf die Schiene – etwa in der Form des kombinierten Verkehrs ist nur ein Teil einer verantwortbaren Mobilitätswende. Dazu gehören viele weitere Aspekte wie z. B. mehr ÖPNV und weniger Individualverkehr, mehr Radwege und weniger Raum für das Auto in Städten, mehr Carsharing und mehr Mitfahrmöglichkeiten statt Fokussierung auf das eigene Auto.

Zum Weiterlesen ein Blick ins benachbarte Ausland: “Die Schweiz braucht Ziele, nicht Prognosen”
https://mobimag.ch/umdenken/